Am 9. August 1962 ist Hermann Hesse gestorben, vermutlich am frühen Morgen dieses Tages, nach Auskunft seines Arztes an Leukämie, dem Patienten hatte man das lieber erst gar nicht mitgeteilt. Da war ich gerade mal zweieinhalb Jahre alt. Und doch hat mich Hesse mein Leben lang begleitet. Über Jahrzehnte hinweg allerdings, ohne dass mir das bewusst gewesen wäre. Wie kann das sein?!

Es war, ist und bleibt der Eigensinn

Kaum jemand hat so entschieden wie Hesse literarisch versucht, den Eigensinn und alle Vorteile dieser noch immer zu Unrecht oft verurteilten Eigenschaft deutlich zu machen. Versucht?! Hat Hesse es wirklich nur „versucht“? Und: Wieso eigentlich „Eigenschaft“? Lässt sich Eigensinn wirklich als Eigenschaft bezeichnen?!

Fangen wir mal mit Letzterem an: Weil es ganz eindeutig das Adjektiv „eigensinnig“ gibt, muss das Substantiv ja logischerweise eine Eigenschaft sein, oder? Ja. Und nein. Ja, Menschen können eigensinnig sein. Aber DER Eigensinn, den Hermann Hesse meint, ist nie etwas Konstantes, bestenfalls eine Eigenschaft, der man sich immer wieder aufs Neue nähern muss. Die man nicht hat, einmal, endgültig, für alle Zeiten. Sie will immer wieder neu erobert werden. Ich beschreibe den Eigensinn darum  – vor allem in Band eins meiner Trilogie des Eigensinns („Mein Kompass ist der Eigensinn“) – immer als Weg. Hermann Hesse hat die Wege des Eigensinns aus den unterschiedlichsten Perspektiven – und immer parallel zu seinem eigenen Weg, seiner Entwicklung – in ALL seinen Büchern beschrieben. Mal unter seinem eigenen Namen, mal unter dem Pseudonym Emil Sinclair. Jedes Buch war immer wieder ein neuer Versuch, sich dem Eigensinn zu nähern. Der sich im Lauf eines 85 Jahre dauernden Lebens natürlich auch seinerseits ständig verändert hat. Nicht alles, was für einen 20-Jährigen Sinn macht, ist für einen 40- oder 70-Jährigen sinnvoll. Hesse wusste das ganz genau.

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Für Hermann Hesse war Eigensinn eine Tugend

Und zwar die höchste, die er sich vorstellen konnte. Tugend – was ist das nun schon wieder?! Nehmen wir mal eine klassische Tugend: Tapferkeit. Etwas altmodisch, ich weiß. Heute wäre vielleicht besser ein Wort wie Zivilcourage. Wie immer wir es nennen, das ist kein Mensch die ganze Zeit über. Tapfer kann man in bestimmten Situationen sein, aber nicht tagaus, tagein, jede Sekunde des Tages. Wir können uns vornehmen: Wenn es nötig wird, werde ich eingreifen, Zivilcourage zeigen. Vermutlich entbehrt es auch nicht einer gewissen „Tapferkeit“, wenn man jeden Tag wieder notwendige, aber eigentlich sinnlose Dinge tut. An einer Kasse anstehen zum Beispiel. Oder mit dem Auto im Stau sitzen. Aber deshalb würde uns noch lang kein Mensch „tapfer“ nennen, wir selbst uns auch kaum. (Oder nur ganz selten …) Und ganz gewiss kann man kaum einen Roman – ohne Ironie – darüber schreiben. Klar, es ist in gewisser Weise tapfer, immer wieder aufs Neue gegen Windmühlenflügel anzugehen. Aber es ist auch lächerlich. Und der so beschriebene Held wird in aller Regel zu einer irgendwie tragischen, aber eben auch lächerlichen Figur. Gibt es. Kann sogar lehrreich, unterhaltsam und gut lesbar sein. Aber „der Tapferkeit“ sind wir damit noch keinen Schritt nähergekommen. Kurz: „Mut“, „Zivilcourage“ oder gar „Tapferkeit“ – das alles lässt sich nur sehr schwer eins zu eins beschreiben. Es sollte gelebt werden.

Und Eigensinn? Da ist es noch viel schlimmer, viel unmöglicher. Denn das, was für jeden einzelnen Menschen Sinn macht, lässt sich nie und nimmer beschreiben. Das muss jede und jeder ganz allein herausfinden. Alles, was wir – meiner Ansicht nach – tun können, ist, anzuerkennen, dass es einen verdammt guten Kompass gibt. Den wir alle zur Verfügung haben. Wenn wir denn wüssten, wie wir ihn einsetzen können. Für mich geht das am Allerbesten über das Schreiben. Aber auch alle anderen Formen der Kreativität sind möglich. Und vielleicht noch ganz andere Wege – die ich bislang noch gar nicht kenne. In jedem Fall kann der Eigensinn über Kreativität lebendig werden.

Wenn Eigensinn ein Weg ist, dann hat er Weg-Etappen

Die Weg-Etappen, die für alle Menschen gelten, sind der Aufbruch (Was ist es, was – für mich ganz allein – Sinn macht?) Und das jeweils vorläufige Ankommen, die zurückgelegten Weg-Etappen, die sich idealerweise in irgendetwas Konkretem zeigen. Hesse hat Romane, Erzählungen, Märchen und Gedichte geschrieben, Gärten angelegt und intensiv gepflegt, massenweise Rezensionen zu Büchern von Kolleg/innen verfasst, viele Aquarelle gemalt, eine Psychoanalyse (bei niemand Geringerem als C.G. Jung) gemacht, sich um seine als sehr schlimm erlebten Krankheiten gekümmert (schlimm waren sie – denn die Grunderkrankung war sicher depressiver Natur), hat dreimal geheiratet, sehr früh sein Elternhaus/seine schwäbische Heimat verlassen und war während der zwei Weltkriege zeit seines Lebens Pazifist – das hat er laut und deutlich gesagt, egal, wie viele „Hasskommentare“ (ja, schon damals!) deswegen auf ihn einhagelten. Das war eine sehr subjektive Aufzählung all der Dinge, hinter denen ich wichtige Wegstationen seines Eigensinns vermute.

Und vor allem: Hermann Hesse hat die beste, klarste, kompromissloseste Verteidigungsrede auf den Eigensinn verfasst, die es meines Wissens gibt. Fast hätte ich geschrieben: DIE Hymne des Eigensinns. Damit hat er sich meinem fast 60-jährigen Denken wieder so fest eingebrannt wie es sein Widerstand gegen Mief, Bevormundung und Konventionen beispielsweise im „Steppenwolf“ vor über 40 Jahren schon einmal getan hatte.

Und jetzt?

Muss und will ich all seine Bücher noch einmal lesen – auf der Suche nach den Spuren des Eigensinns, die Hesse dort vor Jahrzehnten gelegt hat? Sind sie dort noch? Haben sie ihre Sprengkraft, ihre Gültigkeit behalten, in den großen Romanen, den kleinen Erzählungen? Ich vermute: ja, sie sind dort noch. Denn das waren kleine Sprengsätze mit ungeheuer langer Zündkraft. Die ich in der Zwischenzeit völlig vergessen habe und die doch immer noch wirken. Und zwar richtig heftig, seit ich meine Liebe zum Eigensinn entdeckt habe. Denn das ist meiner Ansicht nach das Entscheidende: Dass ich MEINEN Weg zum Eigensinn gefunden habe.

Jetzt kann ich diesen einen kleinen Text von Hermann Hesse, der 1918 in der Zeitschrift „Schweiz“ erstmals erschien, als das lesen, was er meiner Ansicht nach ist: eine Liebeserklärung. Mit großer Sprengkraft. Der Text hat den schlichten Titel „Eigensinn“. Und beginnt so: „Eine Tugend gibt es, die ich liebe, eine einzige. Sie heißt Eigensinn.“ Und endet mit: „für Menschen gibt es nur einen natürlichen Standpunkt, nur einen natürlichen Maßstab. Es ist der des Eigensinnigen. Für ihn gibt es weder Schicksale des Kapitalismus noch des Sozialismus, für ihn gibt es kein England und kein Amerika, für ihn lebt nichts als das stille, unweigerliche Gesetz in der eigenen Brust, dem zu folgen dem Menschen des bequemen Herkommens so unendlich schwerfällt, das dem Eigensinnigen aber Schicksal und Gottheit bedeutet.“

Eigensinn ist Lebenskraft

Ja, die letzten Worte sind sehr pathetisch. Aber vergessen wir nicht: Der Autor erlebte gerade einen Weltkrieg. Und was er da sagen will, ist sehr simpel, sehr menschlich – und noch immer gültig: Weder Nationalitäten noch politische Überzeugungen sollten uns führen, sondern nur das, was „einen eigenen Sinn hat“. Und – auch das betont er in diesem Text – einen eigenen Sinn hat „jedes Ding auf Erden.“ Diesen Sinn gilt es zu respektieren. Denn: Eigensinn ist „Lebenskraft“. Und: „Wer der Lebenskraft in seinem Innersten mißtraut, wem sie fehlt, der muß sie durch Ersatzmittel […] kompensieren.“ Solche „Ersatzmittel“ sind beispielsweise Patriotismus, Geldgier, Machtbedürfnisse oder „Völkerkriege“. All das müsste mit dem Eigensinn „den ich meine“ gar nicht erst entstehen, schreibt Hesse. Wichtigstes Ziel eines jeden Eigensinnigen sei das „eigene Wachstum“.

Danke, Hermann Hesse!

 

Eine Buchempfehlung?

Als Buchempfehlung taugt dieser Text nur bedingt. Denn es ist einerseits das Verdienst von Hesse-Herausgeber Volker Michels, Hermann Hesse und den Eigensinn immer wieder in neuen Buchausgaben in den Blick zu nehmen. Andererseits verwirrt das ein bisschen … Ja, es gibt mehrere Bücher, die Hesses Namen und den Eigensinn im Titel haben. Was natürlich auch wieder kein Wunder ist, umfasst der Originaltext doch gerade mal sieben kleine Din-A6-Seiten. Aber die haben es in sich!

Und andererseits: Auf je eigene Weise setzen sich alle Hesse-Bücher mit dem Eigensinn auseinander.

Ein Tipp: Auf YouTube liest Gunnar Kaiser diesen kleinen Text kostenlos vor, ziemlich gut, wie ich finde. Kaiser ist selbst Autor, sein Debütroman „Unter der Haut“ erschien 2018.

 

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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

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