So richtig verstanden habe ich den Mann und das ganz besondere Engagement seiner Bücher erst, nachdem ich „Treibsand“ gelesen hatte. Dieses Buch ist seine Biografie. Und es ist so ganz anders als alle anderen „Mankells“. Und anders als die meisten Autobiografien, die ich kenne. Es ist eigensinnig. Weil sich Henning Mankell ganz einfach seinen eigenen Gedanken überlässt. Die Gedanken mäandern, treiben eben vor sich hin. Und doch ist da immer eine ganz eigene Spur, der Weg des Eigensinns eben.

Was es heißt, ein Mensch zu sein

Eigentlich ist alles ganz einfach. Und steht schon im Untertitel: „Was es heißt, ein Mensch zu sein.“ Darum geht es. Und Mankell bleibt dabei ganz er selbst, lakonisch wie eh und je, unsentimental und mit einem Siebten Sinn für alles, was Sinn macht. Trotzdem tut er hier auch Dinge, die er vorher nur eher sporadisch getan hat. Zum Beispiel spricht über sich selbst. Das aber immer mit dem Blick auf ein größeres Ganzes, der auch seine Krimis immer ausgezeichnet hat – wenn man sie denn richtig zu lesen versteht. Das habe ich nachgeprüft. Nachdem ich „Treibsand“ gelesen hatte, habe ich mehr als einen seiner Krimis noch einmal rausgekramt. Und gelesen. Mit wachsender Begeisterung.

Einsamkeit, nicht nur von Hunden ….

Dabei habe ich auch seine überaus philosophischen Jugendbücher entdeckt. Etwa den über Mankells eigenes Erlebnis „als ich ein Kind war und in einer kalten Winternacht keinen Schlaf fand, einen einsamen Hund durch den Lichtkegel einer schwankenden Straßenlaterne laufen und danach wieder in der Dunkelheit verschwinden sah. Manchmal denke ich, dass alle meine Fragen über Leben und Tod, über Vergangenheit und Zukunft, mit diesem einsamen Hund zu tun haben, der auf leisen Pfoten von Dunkelheit zu Dunkelheit lief.“ So steht es in „Treibsand“. Als Jugendbuch wurde daraus: Der Hund, der unterwegs zu einem Stern war. Ich finde: Dieses Buch kennt keine Altersbeschränkungen. Mich hat es mit meinen über 60 Jahren noch ziemlich angerührt …

Die Fragen des Henning Mankell

In dem Kapitel, aus dem ich die Geschichte des einsamen Hundes zitiere, geht es Mankell in „Treibsand“ um Sinn, eigene Wahrheit(en), um Fragen und um Veränderungen: „Wir alle stellen uns Fragen. Das haben wir gemeinsam.“

Aber: „für Milliarden von Menschen auf der Welt ist es ein unerreichbarer Luxus, sich Zeit zum Denken nehmen zu können.“ Das weiß er, das hat er selbst erlebt, verbrachte er doch beispielsweise fast die Hälfte seines Lebens in Afrika. Er, der vielleicht schwedischste aller Schweden: „In meiner Welt sind Wahrheiten immer provisorisch. Keiner meiner Gedanken ist in meinem Leben unverrückbar geblieben. Wahrheiten sind wie Schiffe, die auf dem Meer schaukeln […] Ein Schiff, das von einer Reise zurückkehrt, ist ein anderes Schiff als jenes, das einst in See stach. Auch die Wahrheit reist in meinem Kopf und in meinem Leben mit. Damit diese Wahrheiten überleben, muss ich sie manchmal in Frage stellen und eine Veränderung suchen.“ Und – quasi als Fazit – dieses einen Kapitels:

„Unsere Fähigkeit, uns Fragen zu stellen, macht uns zu Menschen.“

Mäandernde Gedanken. Und Eigensinn

Immer wieder wird die Krebserkrankung thematisiert, der Tod. Als Mankell beginnt, an „Treibsand“ zu schreiben, kennt er seine Diagnose. Krebs. Und leider stirbt er auch bald darauf daran.

Und es geht um die Geschichte der Menschheit. Das steht schon in Mankells eigener Widmung, ganz zu Beginn: „Dies ist ein Buch darüber, wie die Menschheit gelebt hat und lebt und wie ich mein eigenes Leben gelebt habe und lebe. Und über die große Freude am Leben.“

Die Geschichte der Menschheit? Gleich der ganzen?!

Ja, das meint er durchaus ernst. Das ist auch so etwas, was er sonst eher selten getan hat: Er mäandert, lässt seinen Gedanken scheinbar völlig freien Lauf. Das geht von den ersten Höhlenmalereien bis zum Vulkanausbruch in Pompeji bis nach Timbuktu, immer nach wieder Afrika, zu Löwenmenschen, Müllhalden, Treibsand und Atommüll bis zur Geschichte der Pockenimpfung oder zu Jules Vernes. Pina Bausch tritt neben Adolf Hitler auf, Musik, Theater, Krankheit, Angst, Tod. All das kommt vor. Und noch vieles mehr. Trotzdem ist das Buch noch immer nur ein kleiner Ausschnitt aus dem – vor allem politisch und gesellschaftlich kritisch bewegten – Leben des Henning Mankell. WIE weit das ging, darüber informiert der Wikipedia-Eintrag zu seiner Person übrigens exzellent.

Es ist – lustigerweise – ein bisschen wie bei Georges Simenon: Auch er wollte immer im möglichst Kleinen von dem erzäkhlöen, was uns alle ausmacht. Lustig finde ich das deshalb, weil ich Mankell wie Simenon für ganz große Eigensinnige halte ….

Erinnerungen sind Erzählungen

Paris war für den jungen Mankell ein zentraler Ort: „durch und durch romantisch“ sei der Entschluss gewesen, den er Knall auf Fall gefasst hatte: Schule verlassen (zu langweilig!), nach Paris fahren. Und Schriftsteller werden. Da war er gerade mal 16 und „zu überleben war ein ständiges Problem.“ Da ist er wieder, der ganz und gar lakonische Mankell. Doch in „Treibsand“ bleibt es nicht bei der Betrachtung kleiner Städte wie Ystad und der Menschen, die dort leben. In diesem Buch geht es um Größeres: „“Auch ein begrenzter und vorübergehender Besuch am Boden der Gesellschaft bedeutet, dass man sich vor eine der wichtigsten Entscheidungen im Leben gestellt sieht: Welche Art von Gesellschaft will man mitgestalten?“ Dass diese Frage sein „gesamtes Leben geprägt hat“, glaube ich ihm nach der Lektüre von „Treibsand“ nicht nur; ich weiß es. Sehe es in all seinen Büchern gespiegelt. Und lerne:

Der Mann war einer der großen, eigensinnigen Autoren.

Er entwickelt eine Haltung, stellt sie immer wieder in Frage, bleibt sich trotzdem treu, geht seine eigenen Weg – ganz egal, was andere sagen.

Wie er zum Autor wurde

Zum Beispiel die Veröffentlichung seines ersten Buches: Er schickt das Manuskript einfach ab, offenbar an den nächstbesten Verlag. Weil er glaubt, es sei nun endlich „gut genug“. Und dann die Erleichterung: „Ich hatte mich nicht getäuscht“. Klingt so simpel. Aber es war ein langer Weg. Einer, bei dem er auf seine innere Stimme, sein Bauchgefühl, was auch immer hörte. Und ganz sicher jede Menge Zweifel hatte. Doch die zählen nicht. Nur der Prozess, der Weg. Auch das ist Eigensinn.

Bei ihm steckt vieles in dieser „Erleichterung“, eigentlich der ganze Weg des Eigensinns. Der nie aufhört, immer wieder von vorn beginnt.

Mankell behauptet nie, dass Schreiben einfach wäre.

Eigensinn ist auch nicht immer einfach ….

Was bedeutet diese „Erleichterung“?

Mankell ist und schreibt transparent und klar. Immer. Auch das zeichnet viele eigensinnige Menschen aus. Vor allem, wenn sie schreiben. Und: Die zitierte „Erleichterung“ ist stets „von kurzer Dauer.“ Und dann beginnt die Suche nach dem Weg des Eigensinns von vorne.

Das gilt alles nicht nur für Mankells Bücher, sondern auch für die Aufführungen des Teatro Avenida in Maputo (Mosambique), dessen künstlerischer Leiter er war. Doch genau diese Erleichterung trieb ihn auch  immer wieder an.

Sich nie die Freude nehmen lassen

Das letzte Kapitel trägt die Überschrift „Sich nie seine Freude nehmen lassen.“ Bis dahin sind wir Henning Mankell mäandernd durch unzählige Geschichten der Menschheit gefolgt …

Und das ist wichtig. Denn „Erinnerungen sind Erzählungen.“ Auch das ist so ein Gedanke, den ich vorbehaltlos teile.

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Haltung? Haltung!

Der für mich wichtigste Gedanke steht im titelgebenden Kapitel namens „Treibsand“. Da schreibt er: „Die Identität wird dadurch geformt, dass man es wagt, sich schweren Fragen gegenüber eine Haltung anzueignen. Das weiß jeder, der seine Kindheit nicht ganz vergessen hat.“

Damit zitiere ich ihn auch in „Mein Kompass ist der Eigensinn„. Allein für diesen Satz liebe ich den Mann, der allein als „Krimischriftsteller“ völlig unzureichend beschrieben wäre.


Text und Foto: Maria Al-Mana


 

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