Meine Liebe zum Eigensinn hat mittlerweile fast unendlich viele Facetten. Die reichen vom Schreiben über Buchgestaltung bis zu individuellen Abenteuern auf der Suche nach dem, was uns wirklich wichtig ist. Doch wo hat das alles seinen Ursprung?! Ehrlich: Ich weiß es nicht mehr so genau. Aber es ist gut möglich, dass Georges Simenon ganz am Anfang stand. Der Mann, der sich oft als „ohne Heimat“ bezeichnete – und doch Belgier war. Dessen Geburtstag immer mit 12. Februar angegeben wird – was vermutlich ein abergläubischer Trick seiner Mutter war, die bei der Geburt nach Mitternacht die Zahl 13 vermeiden wollte. Wie auch immer: Erst einmal herzlichen Glückwunsch, Monsieur Simenon!

Steinchen für Steinchen ….

Wieso denke ich bei Simenon immer an Eigensinn? Zum Beispiel, weil er von sich selbst sagte, dass all seine Bücher – Krimi oder Kurzroman – ein riesiges Mosaik seien. Nie habe er es geschafft, den EINEN großen Roman zu schreiben, „Ich habe nur ein Mosaik gemacht. Steinchen, viele aneinandergereihte Steinchen.“ Diese in sich geschliffenen Steinchen, Geschichten sind wie Diamanten, in deren Mittelpunkt immer mindestens ein Mensch steht, der exemplarisch ist für sehr viele Menschen. Und das Gesamt-Mosaik ist eine Annäherung an „die Menschheit“. Ein Ziel, das natürlich nie zu erreichen ist, das war Simenon klar.  Zumal es ihm weniger um das Vordergründige ging, sondern eher um Unbewusstes, um das, was uns allen zugrunde liegt, zugrunde liegen könnte. Und was eigentlich gar nicht in Worte zu fassen ist. Am Ende seines Lebens verbot sich Simenon – nach mehreren hundert fiktiver Büchern – komplett, weiterhin Fiktion zu schreiben. Er diktierte nur noch, im Mittelpunkt stand er allein, als Mensch, als Ich. „Und je mehr ich diktiere, desto bewußter wird mir, dass ich überhaupt nie etwas geschaffen habe. Ich habe immer nur mich selber nach außen getragen. Und darin sind wir wie Brüder. Und vielleicht auch in unserer Fähigkeit, vom Einzelnen auszugehen und zum Allgemeinen zu kommen. Genau das war das Ziel seines gigantischen Mosaiks aus kleinen Steinchen … Er hat dieses Ziel – nach eigenem Empfinden  – nie erreicht. Kein Wunder, wollte er doch mehr oder weniger nichts weniger als das (fast) Perfekte: „Ich beneide Sie ein wenig darum, dass Sie diese Perfektion in jedem Sinne erreicht haben“

Als Simenon noch fiktive Geschichten schrieb, war jede einzelne von ihnen von Anfang an so atmosphärisch dicht, dass jede allein schon einen ganz eigenen Kosmos bildete. Steinchen um Steinchen hat er sie aneinandergefügt, eigensinnig, immer auf der Suche. Auf der Suche wonach? „Wir sind ein wenig wie Schwämme, die das Leben aufsaugen, ohne es zu wissen, und dann geben wir es in veränderter Form zurück, ohne dabei aber den alchimistischen Prozess, der sich in uns abgespielt hat, zu kennen.“ Alchimistisch?! Mit wem redet er denn da eigentlich?!

Georges Simenon und Federico Fellini

Alle Zitate hier stammen aus einem eher schmalen Büchlein, das den Briefwechsel zwischen Georges Simenon und Federico Fellini enthält. Seltsame Kombination? Eigentlich nicht, wenn man weiß, dass Simenon sich mehr oder weniger gezwungen sah, 1960 Jury-Präsident der Filmfestspiele von Cannes zu werden. Und dabei setzte er sich sehr entschieden für zwei Dinge ein: Erstens solle eine solche Jury unabhängig von den Einflüssen  französischer Politik sein – schier unmöglich! Der „Löwenanteil der Preise“ müsse an das gastgebende Land gehen, wurde ihm von höchster Stelle mitgeteilt. Simenons Antwort: „Ich glaube gesagt zu haben, dass mir das wurscht sei.“ Und zweitens: Die „Goldene Palme“ kann und darf nur jener Film erhalten, der für Simenon ein „Meilenstein der Filmgeschichte“ ist: la dolce vita von Federico Fellini. Genau das setzt Simenon am Ende auch durch. So begann sie, die Freundschaft, ach was, die Komplizenschaft zwischen zwei Männern, die sich schon bald als Brüder sehen.

Der „Rote Faden“ zwischen Simenon und Fellini

So schwer es ist, hinter all den „Mosaiksteinchen“ von Simenon den Autor zu entdecken, so unmöglich es ist, über sein „Werk“ als etwas Geschlossenes zu sprechen, so leicht fiel es mir, im Briefwechsel zwischen Simenon und Fellini den „Roten Faden“ für das – absolut unterschiedliche Werk – beider zu finden. Ich nenne es Eigensinn. Und zwar einer, der sich nie mit Oberflächlichkeiten zufrieden gibt, der ständig auf der Suche ist. Nach dem richtigen Thema für den nächsten Film. Oder nach Heimat, nach „dem richtigen“ Ort. Simenon ist 33mal in seinem Leben umgezogen – vom winzigen Boot in riesige Villen, sogar ein Schloss war darunter, von der kleinen, südfranzösischen Insel Porquerolles und mehreren Orten in den USA ins beschauliche Lausanne, um nur einige Stationen zu nennen. Seine „echte Heimatstadt“ Lüttich kam dabei nie in Betracht. An Fellini schreibt er: „Sie sind ein Römer. Ich bin ein Mensch, der nirgendwo zu Hause ist.“ Aufbruch, Neuanfang, neue, andere Perspektiven – das ist für beide immer ein Thema. Besonders häufig mit Blick auf das, was bewusst, was unbewusst geschieht – und wie das in filmische oder schriftliche Bilder gebracht werden kann. DAS ist der Rote Faden, der beide verbindet. Und zwar mit einer gleichermaßen scheuen wie intensiven Nähe. Von „vertrauter Freundschaft“, großem Respekt und gegenseitiger Bewunderung ist da immer wieder die Rede. Und es ist mit Sicherheit ernst gemeint, darum ist dieses Büchlein auch einfach gut zu lesen. Man wird den Eindruck nicht los: Die beiden haben sich nicht gesucht, sehr wohl aber gefunden. Der Briefwechsel erstreckt sich über 30 Jahre – und doch bleibt der Grundtenor immer gleich: Respekt, Freundschaft, Vertrauen.

Eigensinnig. Schwer in Worte zu fassen

Beide ringen immer wieder um das, was nur schwer in Worte zu fassen ist: „Kurz und gut, mein lieber Freund: Simenon, der Meister des Lebens und der Schaffenskraft, gehört der Traummythologie an und schreitet wie ein Zauberer ein, um Wunder zu bewirken“ – das schreibt ihm Fellini einmal in Bezug auf einen sehr konkreten Traum, den er dem Freund ausführlich geschildert und in dem der wirklich „Wunder bewirkt“ hatte. Doch gleich darauf sind ihm diese „großen Worte“ offensichtlich peinlich und er beendet den Brief mit „Verzeihen Sie mein ausschweifendes Geplauder.“ Simenon nimmt es ihm nicht übel, im Gegenteil, er geht darauf ein: „Wir sind beide große Kinder geblieben, und ich hoffe, dass wir dies auch bis zum Ende bleiben werden, da wir mehr unseren oft unerklärlichen inneren Impulsen als irgendwelchen Regeln folgen.“

Und wenn Simenon der Bewunderung seines Freundes Fellini Ausdruck gibt, klingt es wie das in meinen Ohren das ultimative Loblied auf den Eigensinn – der ihn selbst genauso auszeichnete wie Fellini: „Denn du bist der Prototyp des schöpferischen Menschen. Du hast niemals irgendwen nachgeahmt. Du bist keiner Mode gefolgt.“ Schon früher, da siezte er ihn noch, schrieb er: „Sie erneuern sich unablässig und bleiben doch derselbe, als würden Sie von einer inneren Kraft dazu angetrieben, was wahrscheinlich der Fall ist. Es gibt keinen Ästhetizismus in Ihrem Werk und auch keine Originalität um jeden Preis. Ihre Originalität ist Ihre eigene, sie gehört mit anderen Worten nur Ihnen, und ist durch keine Bewegung, durch keine Mode beeinflusst, wodurch sie gerade so einmalig und so wertvoll ist.“

Das alles lässt sich über Simenon ganz genauso sagen. Und in meinem zweiten Band der Trilogie des Eigensinns kommt er darum auch immer wieder vor. Denn, wie gesagt: Vielleicht waren seine Bücher eine der Initialzündungen, die mich überhaupt erst auf den Weg des Eigensinns gebracht haben.

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Das Buch

Simenon, George/Fellini, Federico – Carissimo Simenon, Mon cher Fellini. Der Briefwechsel zwischen Federico Fellini und Georges Simenon. Zürich, 1997.


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Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.


 

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