Ich möchte erst mal einen kleinen Umweg nehmen. Hin zu Ingrid Meyer-Legrand und deren Newsletter. Ingrid Meyer-Legrand ist Coach, Supervisorin und Therapeutin, vor allem aber auch die Autorin jenes Buches, das mich erst zu all den Fragen rund um die Kriegsenkel:innen geführt hat. „Die Kraft der Kriegsenkel“ heißt es. Und ich beschäftige mich hier und hier eingehender damit – in meinem Unruhewerk, dem Blog, der vor allem vom Älterwerden handelt. Aber auch viele Buchtipps enthält …

Kriegsenkel:innen und Narzissmus

In besagtem Newsletter schrieb Ingrid Meyer-Legrand jedenfalls: „Narzissmus hat immer mit Kränkungen zu tun, mit einer Schädigung des Selbstwertes und dem Versuch, trotz widriger Umstände den Kopf oben zu behalten. So gesehen ist der Narzissmus, über den wir im Zusammenhang mit den (Kriegskinder-)Eltern und den Kriegsenkel:innen sprechen, ein Teil des langen Schattens der NS-Erziehung, der Verfolgung und Ermordung Andersdenkender, des Krieges, der Flucht und Vertreibung. Unsere Eltern hatten sich als Kinder und Heranwachsende an einem gesellschaftlichen Bild auszurichten, in dem sie ’stark wie Kruppstahl‘ sein mussten und in dem Abweichungen jeglicher Art zum Tode führen konnten. Sie selbst kamen mit ihren Interessen, Neigungen und Bedürfnissen nicht vor. Mehr noch: Ihr Selbstwertgefühl war antastbar und durfte zerstört werden.“ Und weiter: „Eine Möglichkeit, mit einem familialen oder gesellschaftlichen Klima umzugehen, in dem der einzelne Mensch nichts wert ist, besteht in der Erhöhung des eigenen Selbst. Das nennen wir Narzissmus.“ Ja, Narzissmus ist  das Thema, dem sich Ingrid Meyer-Legrand immer wieder widmet. Doch an dieser Stelle all ihrer – sehr berechtigten – Gedanken würde ich jetzt gern einen völlig anderen Weg einschlagen. Hin zum Eigensinn.

Denn Narzissmus verstrickt uns in Gedanken und Handlungen, die uns allen nicht guttun. Und da ist es schon völlig egal, ob wir uns den „Schuh“ anziehen wollen, Kriegsenkel oder – enkelin zu sein. Oder nicht. Doch Ingrid Meyer-Legrand hat natürlich vollkommen recht: Gerade Kriegsenkel und Kriegsenkelinnen müssen immer wieder neu, verstärkt und anders als andere Menschen um das Bewusstsein ihres Selbstwerts kämpfen.

Begriffsklärungen: Kriegsenkel und Narzissmus

Ja, das muss mal eben noch kurz sein – dann komme ich endlich zu dem Thema, zu dem ich eigentlich kommen will, dem Eigensinn. Versprochen!

Was genau sind Kriegsenkel:innen?

Deren Eltern waren Kinder im Zweiten Weltkrieg, also geraten hier all jene ins Blickfeld, deren Eltern zwischen 1928 und 1946 geboren wurden. Doch nicht alle Menschen mit diesen Geburtsjahrgängen würde ich als Kriegsenkel:innen bezeichnen. Ganz und gar nicht. Da müssen schon einige weitere Faktoren dazu kommen:

  1. Die Eltern sind (waren) traumatisiert. Und die Auswirkungen der Traumata kommen bei deren Kindern an. Sei es über Bilder, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben, Alpträume oder unklare, selten bis gar nicht formulierte Gefühle – die aber trotzdem da sind. Und sehr stark werden können, bei Eltern wie bei Kindern. Das ist das Vertrackte: Die Eltern haben es erlebt, sprechen aber nicht darüber. Die Kinder spüren etwas – aber wie im Nebel, das verunsichert noch zusätzlich. Meist werden diese Gefühle, Gedanken und Erlebnisse lange – sehr lange – verdrängt. Hilft aber gar nichts, macht die Sache meistens nocht viel schlimmer. Oder das Ganze läuft gleich über die DNA, die weitervererbt wird – kein Entkommen! Das besagt die sogenannte Epigenetik.
  2. Diese Traumata sind ohne Frage vorhanden. Doch es wird nie oder allenfalls äußerst selten darüber gesprochen. Das Schweigen und Verschweigen, die Ungewissheit und oft dazu gehörende (Gefühls-)Kälte, die diese „Enkel:innen“ an ihren Eltern erleben, belastet sie schwer. Aber sie können meist sehr lange gar nicht genau benennen, worin diese Belastung denn eigentlich liegt.
  3. Typisch für Kriegsenkel:innen ist oft alles, was sich mit dem Thema „Flucht“ assoziieren lässt, Ruhe- oder Rastlosigkeit und ständige Schwierigkeiten, beruflich oder privat irgendwo „anzukommen“. Das Selbstwertgefühl solcher Menschen ist auch oft nicht gerade stark ausgeprägt und viele von ihnen brauchen Jahrzehnte, bis sie diesen Problemen ihrer Biografie auch nur ansatzweise auf die Spur kommen.

Und was ist Narzissmus?

Die Erklärung, die wir hier brauchen, habe ich bei Quarks gefunden: „Jedes Kind möchte wahrgenommen und anerkannt werden. Wird das Bedürfnis nach Liebe durch die Bezugspersonen missachtet oder stark an Leistung geknüpft, bildet sich der Narzissmus als eine Art Selbstschutz aus.“

Mit der Grunddefinition von Narzissmus wird es etwas schwieriger, denn die kursiert ziemlich kontrovers in verschiedenen Betrachtungsweisen. Brauchbar finde ich, was ich bei „Neurologen und Psychiater im Netz„, dem Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen, einem Berufsverband in deutsch-schweizerischer Kooperation, gefunden habe: „Im Vordergrund stehen ein Grandiositätsempfinden, Selbstüberschätzung, mangelnde Empathie sowie Egozentrismus.“ Aber: „Im Hintergrund leiden Narzissten unter einem niedrigen Selbstwertgefühl, einer ausgeprägten Kritikempfindlichkeit und Versagensängsten. Betroffene sind stets auf die Bestätigung von außen angewiesen, um das eigene Selbst und ihr Wohlgefühl zu stabilisieren“, berichtet Prof. Sabine Herpertz von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin.

Fazit bis hierhin

Wenn ich jetzt stark vereinfache, sage ich: Narzisst:innen und Kriegsenkel:innen haben vor allem mit mangelndem Selbstwertgefühl zu kämpfen. Beide können aus diesem Mangelgefühl heraus sich selbst wie anderen schaden, beide leiden unter einem Mangel, der verheerend werden kann. Nicht selten finden beispielsweise Kriegsenkel:innen erst durch einen psychischen Komplettzusammenbruch auf die Spur ihrer tiefsitzenden Verletzungen.

Die Spiralen des Narzissmus

Noch mal zurück zu Ingrid Meyer-Legrand: Sie definierte Narzissmus unter anderem als „Versuch, trotz widriger Umstände den Kopf oben zu behalten“. Doch Narzissmus ist alles andere als eine Lösung. Ganz im Gegenteil: Er wird, wie die meisten Probleme, mit denen Kriegsenkel:innen zu kämpfen haben, schnell zu einer Falle, einer Spirale, die Betroffene regelrecht zu verschlingen droht.

Wer an welchem emotionalen Mangel auch immer leidet, wird garantiert Schiffbruch erleiden, wenn er dieses „Mangelbedürfnis“ IM AUSSEN zu stillen versucht. Mit anderen Worten: Je mehr ich darauf hoffe, dass mir andere Menschen das geben könnten, was ich vermisse, desto schlimmer könnte die  Situation werden. Als Narzisst:in versteige ich mich am Ende vielleicht sogar dazu, andere Menschen manipulieren zu wollen – in der Hoffnung, dass sie mir eines Tages das geben können, was ich so schmerzlich vermisse. Tief im Inneren bin und werde ich dabei aber verzweifelter denn je … Das meine ich mit „Spirale“, denn dieser Prozess kann sich rasant beschleunigen. Kriegsenkel:innen tendieren im Gegenteil (wie manche Narzisst:innen übrigens auch – wohl vor allem weibliche) dazu, sich immer weiter in sich zurückzuziehen. Da rücken Depressionen schnell in greifbare Nähe. Auch hier entsteht eine Spirale: Indem ich versuche zu vermeiden, was mich verletzt, rutsche ich nur immer tiefer hinein.

Und wie komme ich aus diesen Spiralen raus?

Mit zwei einfachen Bewegungen: In der einen Bewegung sage ich mir, dass mir andere Menschen nie geben können, was ICH brauche. Wie denn auch?! Ich bin ich und der/die andere ist der/die andere. Die Bewegung geht also hin zu mir. Ich frage mich, was ich brauche, was für mich Sinn macht. Und mache mir klar, dass die wichtigste Anerkennung, die ich brauche, nie von einem anderen Menschen kommen kann, sondern von mir selbst.

In der zweiten Bewegung wende ich mich dem zu, was für mich Sinn macht. Also bitte nicht: Kopf in den Sand stecken, sondern den Weg gehen, den ich als sinnvoll erachte. Sinnvoll für mich. Ganz gleich, was andere Menschen dazu sagen. Und Geduld bewahren: Wege entstehen erst beim Gehen, sie verändern sich, das Gehen ist immer ein Prozess. Und der Weg meines Eigensinns ist es auch.

Genau: Ich nenne es Eigensinn. Und bin außerdem davon überzeugt: Eigensinn setzt Kreativität frei. Zum Beispiel die Kreativität des Schreibens. Nicht wenige Kriegsenkel:innen haben diesen Weg für sich entdeckt. Und ich bin ihnen zutiefst dankbar dafür, dass sie ihre Wege in Buchform mit uns teilen. Denn das ist die dritte Bewegung, die wir machen können: Wir teilen unsere Erfahrungen mit anderen. Vielleicht, vielleicht kommt dann auch die Anerkennung, nach der wir gesucht haben. Aber das bleibt ein „vielleicht“. Macht allerdings gar nichts, denn diese Art der Anerkennung brauchen wir dann nicht mehr. Die haben wir längst in uns selbst gefunden.

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Kriegsenkel:innen, das Schreiben und der Eigensinn

Meiner Ansicht nach haben Kriegsenkel:innen mit dem Weg des Eigensinns wunderbare Möglichkeiten, sich biografisch schreibend mit ihren schmerzhaften Geschichten auseinanderzusetzen, ihren Weg, ihren Kompass zu finden und all diese Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen. Das Interesse ist da, denn die Realität der Erlebnisse von Kriegsenkel:innen beginnt gerade erst, in das Bewusstsein vieler Menschen zu dringen. Und ich halte diesen Prozess für umso wichtiger, wenn wir uns bewusst machen, dass der Zweite Weltkrieg leider absolut nicht der letzte Krieg war, den wir alle erleben musste. Mit anderen Worten, dass es Millionen von Menschen gibt, die durch Kriege uns kriegsähnliche Erlebnisse traumatisiert wurden.

Momentan zählen die Geschichten der Menschen, die direkt oder indirekt durch die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs traumatisiert wurden, zu den bislang am besten aufbereiteten Geschichten. Doch sie werden nicht die Letzten bleiben … Das ist fürchterlich, aber nicht zu ändern. Nicht zuletzt deshalb halte ich die Frage für extrem wichtig: Was kann uns bei diesem Prozess Kraft geben? Meine Antwort ist: der Eigensinn. Doch es gibt sicher noch viele andere Wege … Wenn Sie mögen, schreiben Sie mir gern unten öffentlich Ihre Ideen, Ihre Wege dazu. Oder ganz privat, per Mail.

Wer weitere Ideen und Anregungen braucht: Ich schreibe immer wieder über das Thema, etwa in meinen Büchern – ein Auszug aus „Mein Kompass ist der Eigensinn“ finden Sie hier, in meinem Privat-Blog, dem Unruhewerk. Auch da geht es oft um Kriegsenkel:innen und Eigensinn, eigentlich ist es aber ein Blog, dessen Thema vor allem das Älterwerden ist. Ein anderes Beispiel: Viele Kriegsenkel tun sich schwer damit, ihre Geschichte zu erzählen. Auch ich. Der Aufhänger dabei ist die Bombardierung und Zerstörung von Dresden – ein historisches Trauma, das ich über die Erinnerungen aus der Familie meiner Mutter sozusagen in den Genen habe. Wahrlich kein einfaches Erbe …

Schreiben hilft!

Doch ich versuche immer, mich dem zu stellen, was solche Erinnerungen in mir hinterlasen haben … Das ist einiges. Und wer es schafft, sich ihnen zu stellen, landet mitten in Erzählungen. Die könnten auch erzählt werden … Wäre gut für alle, die nach uns kommen. Wäre auch gut für das Verhältnis zwischen jung und alt. Und: Es ist immer gut für uns selbst: Schreiben hilft!

Wenn Sie sich aus diesem Aspekt für ein eigenes Buchprojekt entscheiden wollen, wenn Sie sich jemanden wünschen, der Sie dabei begleiten kann – ich könnte helfen! Ich bin spezialisiert auf alle Themen rund um das biografische Erzählen, bin als Systemische Coach ausgebildet und biete auch Schreibcoaching an, habe schon viele Autorinnen und Autoren im Selfpublishing wie bei Verlagsveröffentlichungen begleitet, bin Germanistin und Lektorin … Suchen Sie sich einfach die Bereiche aus, die Sie gebrauchen können! Was bisher schon erschienen ist, sehen Sie auf einen Blick hier. Und mehr über mich finden Sie beispielsweise hier. 


Beitragsbild erstellt mit Hilfe von: https://photofunia.com/de/

Text: Maria Al-Mana


 

 

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