Meine These ist, dass wir in Corona zunehmend mehr an dem verlieren, was ich das Gemeinschaftsgefühl nenne. Ich gebe zu: Das ist ein sehr altes Thema von mir. Es begann etwa dort, wo ich mit Entsetzen wahrnahm, wie rasch sich all das auflösen konnte, was ich lang für selbstverständlich hielt. Etwa in der ersten Blase der „New Economy“, in der plötzlich gefühlt alle Menschen, die ich als Avantgarde sah, selbstständig wurden. Und niemand mehr was wissen wollte von der Solidarität gemeinsamer Renten, Arbeitslosenversicherung etc. Jeder für sich und wir gegen alle. Gleichzeitig aber auch: gemeinsam Billard und/oder Tischfußball spielen, Sammelbestellungen für Müslis, Obstkörbe und/oder Smoothies aufgeben. Keine Ahnung, ob das eine das andere kompensieren sollte. Die Ahnung allerdings, dass da was ganz und gar falsch lief, hatte ich sehr deutlich. Das war vor rund 20 Jahren. Mindestens genauso alt ist der Schwächezustand aller gewerkschaftlichen Ideen, deren Sichtbarkeit, Überzeugungskraft, ja: Selbstverständlichkeit in weiten Teilen unserer Gesellschaft. Habe ich zumindest stark so wahrgenommen – obwohl an deren Stelle vielerorts andere genossenschaftliche Ansätze getreten sind. Die aber immer weiter vereinzeln und prima gegeneinander ausgespielt werden können. Genossenschaftlich organisierte Banken etwa: Da gibt es derzeit in Deutschland 850 Volksbanken und Raiffeisenbanken, dazu kommen die Sparda-Banken, PSD-Banken, die Gls-Bank, Kirchen-Banken und weitere wie etwa die Deutsche Apotheker- und Ärztebank. Stehen natürlich alle in Konkurrenz zueinander, das „genossenschaftlich“ bezieht sich nur auf die jeweils hauseigene Struktur.
Das alles hat mir schon vor Corona zu schaffen gemacht. Ebenso die Möglichkeiten, mit denen wir uns mit alldem spielend leicht – mangels gelebtem Gemeinschaftsgefühl – gegeneinander ausspielen (lassen) können … Alles nichts Neues. Ist ja einer der Grundgedanken, aus denen mein Unruhewerk entstanden ist, da geht es – ganz und gar nicht zufällig – um das Älterwerden. Eine Art Grundsatzerklärung dazu hier.
Inhalt
Reibung, Wärme, Kälte … Gefühle eben
Tja, und dann kam Corona. Wir verkrochen uns, mal notgedrungen, mal freiwillig. Aus Sicherheitsbedürfnis, Furcht oder Sorge, um uns und/oder um andere. Weil Bestimmungen und Arbeitgeber es so forderten. Was wir verstanden, teilten, einsahen – oder auch nicht. Spielt an dieser Stelle gar keine Rolle. Denn das Endergebnis ist für alle gleich: Wir vereinzeln noch mehr. Setzen uns mit nichts und niemandem mehr hautnah auseinander, der, die oder das für etwas steht, was wir nicht teilen. Ansichten, Meinungen, Stimmlautstärke, Ellbogen, Festzementiertes, Unzeit- und Unsachgemäßes … All das, an denen Mensch sich reibt, reiben muss. Womit wir uns aber zwangsläufig ganz anders auseinandersetzen, wenn wir uns gegenseitig in die Augen gucken, den Zorn des oder der anderen spüren, Körpertemperaturen und -gerüche wahrnehmen, blitzende Augen, ein ganz kleines Lächeln oder zuckende Mundwinkel sehen, kaum hörbare Stimmnuancen hören, nicht ausgesprochene Fragen ahnen … Das macht was mit uns.
Und jede Form der Gemeinschaft lebt unter anderem ja auch davon, dass wir solche Eindrücke verarbeiten. Es muss wirklich nicht gleich die große Konfrontation, der lautstarke Streit sein – Auseinandersetzung findet lange vorher statt. Und ein sehr sinnvolles Ergebnis davon ist immer, dass wir eine Haltung entwickeln. Kann völlig unbewusst passieren, diese Haltung kann uns selbst, unsere Reaktionen und Aktionen betreffen. Oder bestimmte (Sach-)Fragen und -Probleme. Oder unsere Haltung gegenüber anderen Menschen. Auf Inhalte kommt es hierbei (fast) gar nicht an. Sondern auf die Situationen: deren Realität – „ja, das IST real. Ich spüre mich, ich spüre dich!“ Auf ein Miteinander kommt es an – und sei es noch so klein, etwa: Wir sollten beide möglichst gut aus einer blöden Situation rauskommen.
Das alles erzeugt Reibung, Wärme, Kälte … Gefühle eben. Mit denen spüren wir uns lebendig. Jeder und jede für sich. Doch eben: nie völlig allein. Genau darauf kommt es an, auf dieses Minimum an Gemeinschaft. Was mich angeht: Ich habe das Gefühl, dass mir jetzt auch noch das letzte Restchen davon verloren geht. Wie gesagt: Ich hadere schon ziemlich lang damit, dass der Gemeinschaftsgedanke (den ich fatalerweise irgendwie für unsterblich hielt …) mehr und mehr verschwindet. Und mit Corona noch mehr?! Geht das überhaupt?! Ich will das nicht zulassen, möchte mich dagegen stemmen … Und kriege doch immer ganz schnell das Gefühl: Schon wieder was verloren! Ob das mit unserer neuen Regierung besser wird? Keine Ahnung. Auch das finde ich fatal: Mir scheint, mein Vorrat an Optimismus ist für lange Zeit im Voraus aufgebraucht …
Verlust-Gefühle. Ohne Ersatz
Zum Beispiel Zoom-Meetings. Da gibt es nette Beispiele, monatliche Verabredungen, lockere Unterhaltungen. Doch ich spüre dabei immer nur den Verlust, kann gar nicht so reagieren, wie ich es „normalerweise“ täte, fühle mich von der Technik gelähmt, studiere die Hintergründe im Bild statt die Menschen vor der Kamera, bin alles andere als spontan und grüble hinterher noch stundenlang über einzelne Sätze … Ja, ich habe es versucht. Es hat mich traurig gemacht. Das lag ganz und gar nicht an den Menschen. Aber an den Umständen. Ich spüre ständig: Das ist ein Ersatz. Es soll nur „vorübergehend“ sein. Und sehe: Nein, das bleibt erst mal. Für wie lange? Keine Ahnung. Jetzt schon viel zu lang. Und absehbar noch viel länger.
Was macht das alles mit unserer Fähigkeit zum Eigensinn?
Ich betone ja ständig auch: Mit Eigensinn geht es fast immer darum, FÜR etwas zu sein, sich den eigenen Weg zu suchen, aktiv auf sich selbst zu hören, den eigenen Sinn zu finden, für etwas einzustehen – und seien es „nur“ die eigenen Erfahrungen. Geht das noch, in Zeiten von Corona? Oder grenzt es dann nicht doch schon an Egoismus? In meiner Definition von Eigensinn hat Egoismus keinen Platz. Denn es geht darum, eigene Stimmen, Wege, Positionen zu entwickeln. Und die nutzen immer allen Menschen: für mehr Klarheit, mehr Perspektive, mehr Vielfalt … Aber wenn ich weiß, dass täglich weltweit etwa 7.200 Menschen an Corona sterben, nimmt mir das buchstäblich die Luft. Und ich denke: Es gibt so viel Wichtigeres, als über gelebten Eigensinn nachzudenken! In diesem Loch stecke ich seit etwa einem Jahr. Und komme mit meinem Eigensinn-Projekt kaum vorwärts … Sprich: Band drei der Trilogie. Denn da will ich unter dem Arbeitstitel „Eigensinn verbindet“ vor allem Mut machen. Mut auf gelebten Eigensinn. Geht das (noch)?
Ja, ich versuche gegenzusteuern. Um es ganz klar zu sagen: ich suche Trost. Etwas, das uns verbindet. Und – noch! – funktioniert. Was kann das sein? Was ist es für euch/für Sie? Bin dankbar für alle Anregungen!
Was verbindet uns?
Eigentlich habe ich meine Antwort schon längst gefunden. Das ist auch der Titel meines letzten Bands der Trilogie des Eigensinns: Eigensinn verbindet. Ich bin absolut überzeugt davon, dass das stimmt. Denn es geht um Wege. Die wir eigensinnig aufeinander zu, voneinander weg gehen, die wie nur schwer gehen könnten, wenn wir weder unseren Eigensinn noch den Eigensinn anderer Menschen verstehen.
Derzeit habe ich eine seltsame Art der Schreiblähmung. Die ist fast schon existenziell. Denn ohne „echte“ gemeinsame Erlebnisse bleibt alles, worüber ich schreiben möchte, ein rein theoretisches Gedankenkonstrukt. Das will ich nicht schreiben. Es würde immer um Haaresbreite an der Realität vorbeischrammen, ein „Es-könnte …“, reine Utopie werden.
Um es klar zu sagen: Ein sehr wichtiger Sinn meines Eigensinns liegt darin, Gemeinschaft denkbar, lebbar zu machen.
Ohne Möglichkeit zu Entscheidungen und/oder Kreativität wird es schwierig
Darum befallen mich zur Zeit immer wieder heftige Zweifel. Der eigensinnige Weg macht für mich nur Sinn, wenn er im Rahmen zwischenmenschlicher Aktionen stattfindet: Ich gehe voraus. Erst für mich, dann vielleicht für euch. Ich suche meinen Weg: hin zu mir, weg von dir, hin zu deinem Eigensinn, mitten in mich hinein, immer Richtung Sinn – ganz allein bin ich dabei nie. Wenn ich die Geschichte(n) meines Eigensinns erzählen will, brauche ich ein Publikum. Wenn ich deinen Eigensinn verstehen will, sind wir schon zu zweit. Bei zwei Menschen beginnt für mich Gemeinschaft. Und manchmal endet sie da auch schon. Doch das spielt keine Rolle, denn auf Quantität kommt es in Sachen Eigensinn nie an. Aber ein eigensinniger Mensch, der in jeder Hinsicht allein ist, allein bleibt, wird früher oder später zu genau dem, wovon ich den Eigensinn strikt abgrenze: zu einem egoistischen Menschen.
Dazu kommt: Es ist völlig in Ordnung, oft sogar dringend notwendig, uns auf unserem Weg des Eigensinns eine bewusste Aus-Zeit von anderen Menschen und Gedanken zu nehmen. Die Betonung liegt auf „bewusst“. Und: Es geht dabei um eine begrenzte Zeit – am besten von mir selbst begrenzt. Also eine Aktion, die ICH starte, ganz bewusst, aus einer bestimmten Überzeugung heraus … Eine Entscheidung, die ich allein treffe. Muss ich’s noch sagen? Das alles trifft auf die durch Corona erzwungenen Aus-Zeiten absolut nicht zu. Die sind eben das: erzwungene Aus-Zeiten. Und die führen selten zu Sinn. Ich merke an mir selbst: Das boykottiert meinen Weg des Eigensinns geradezu. Da ist kaum noch etwas kreativ, ich finde (m)einen Sinn dabei nicht, stolpere ständig über meine eigenen Füße, bin oft traurig, manchmal wie gelähmt. Selbst das Schreiben – was für mich normalerweise fast immer geht – funktioniert nur noch selten. Auch hier ahne ich den Grund: zu viel Theorie, zu wenig Leben.
Es geht also um die Lebbarkeit von Eigensinn, um gelebten Eigensinn. Fällt euch/Ihnen dazu was ein? Wo sind die Menschen, von denen sich sagen sagen lässt: Die leben ihren Eigensinn? Bitte erzählt mir davon! Wäre unendlich dankbar!