Die Hauptgründe für eigensinnig Schreibende, ihre Gedanken in die Welt zu tragen, sprich: zu erzählen oder gar zu publizieren, liegen sehr oft in dem Wunsch, sich selbst (neu) zu sortieren, den Erzählstrom nicht abreißen zu lassen, Brücken zu bauen, für andere Menschen Schneisen zu schlagen, Wege zu ebnen und zu betreten – oder sie zumindest anzudeuten.

Das alles ist im Wort Sinn bereits angelegt, bedeutet es doch sowohl „gehen, reisen, fahren“, wie auch „eine Richtung nehmen, eine Fährte suchen“.

Eigensinnige Autorinnen und Autoren können – nach meiner durchaus subjektiven Definition – bewusst UND gleichzeitig unbewusst schöpferische Menschen sein, ständig auf der Suche nach dem eigenen Rhythmus, sie können skurril und unterhaltsam sein, zwischen allen Stühlen sitzen,  scheinbar konträre Sichtweisen verbinden, fantastisches Erzählen und naturwissenschaftliche Ansätze verbinden, haben oft einen ganz eigenen, völlig unverwechselbaren Stil, schreiben über scheinbar Nicht-Fassbares, verbinden Buchgestaltung und Erzählung … Sind nur einige Stichworte.

Ja, ich gebe zu: Welche Autor:innen denn nun eigensinnig sind, ist eine ebenso individuelle Einschätzung, wie eigensinniges Schreiben eine zutiefst individuelle Angelegenheit ist.

Wenn ein Buch geschrieben werden MUSS

Vielleicht ist es einfacher, wenn wir uns dem Endprodukt zuwenden: Woran könnte erkennbar sein, dass ein Buch von einem eigensinnigen Autoren, einer eigensinnigen Autorin geschrieben wurde? Meiner Ansicht nach gibt es da ein ziemlich eindeutiges Indiz: Dieses Buch MUSSTE geschrieben werden. Und zwar genauso, wie es – eben von dieser Autorin, diesem Autor – geschrieben werden MUSSTE.

Und wie kommen wir dorthin? In meinem Buch Wer schreibt, darf eigensinnig sein finden Sie genau dazu unzählige Anregungen, Praxistipps, spielerische Anregungen und Überlegungen.

Hier mal nur ein paar Beispiele:

W. Somerset Maugham – weil für ihn die eigene „Charakterentwicklung“ so wichtig war

Er wurde überaus erfolgreich – aber ich glaube ihm durchaus, wenn er sagt, dass er das gar nicht vorgehabt hatte. Zumindest nicht bewusst. Genau diese Mischung aus halb bewusstem Handeln und durchaus zielstrebigem Schreiben macht ihn für mich unter anderem zu einem eigensinnigen Autor. Ganz lapidar schreibt er: „Ich bin Schriftsteller geworden. Aber es wäre vermessen, wenn ich annähme, dass meine Werke mit einem Plan zu tun hätten, den ich bewusst ausgeführt habe. Ich bin von sehr einfachen Motiven zu verschiedenen Wegen geführt worden und erst im Nachhinein stelle ich fest, dass ich unbewusst auf ein bestimmtes Ziel hingearbeitet habe. Mein Ziel war es, meinen Charakter zu entwickeln und auf diese Weise die Unzulänglichkeiten meiner angeborenen Talente wettzumachen.“ Das stammt aus „Die halbe Wahrheit. Keine Autobiographie“, das Buch erschien erstmals 1938. Und der Mann gehört eindeutig zu der Sorte Autoren, die ich eigensinnig nenne. Gleich zu Anfang seiner „halben Wahrheit“ schreibt er: „Es ist mir ziemlich gleich, ob andere Menschen meiner Meinung sind […] Es stört mich auch nicht besonders, wenn ich feststelle, daß mein Urteil von dem der Mehrheit abweicht. Ich habe ein gewisses Vertrauen in meinen Instinkt.“ Für ihn war schnell klar, dass er Schriftsteller werden wollte – auch, wenn das in seinem Lebensweg alles andere als vorgezeichnet war. Sein Instinkt hat ihn nicht getrogen, später wurde er häufig und sehr zu recht als „Auflagenmillionär“ bezeichnet. Als er „seinen Weg“ einmal gefunden hatte, ließ er ganz einfach nie mehr von ihm ab.

Schöpferischer Mensch: Georges Simenon

Mein zweites Beispiel ist Georges Simenon. Dessen Eigensinn ist so vielschichtig, dass ich allein damit ganze Bücher füllen könnte. Zum Beispiel eine Idee wie „Maigrets Memoiren“! Da lässt der Autor seine Figur –den von ihm erfundenen Kommissar Jules Maigret – mit seinem Schöpfer eine spitzfindige Diskussion über den Wahrheitsgehalt von Texten ausfechten … Das geht so: Da kommt ein Herr Simenon ins Büro des Kommissars und erklärt dem sehr viel Älteren haarklein, wie wenig wirklich „die Wahrheit“ aussehen würde, wenn sie nicht vorher von einem Autor fachgerecht „frisiert“ würde … Dabei wirkt er „noch selbstzufriedener als sonst, noch selbstsicherer, wenn das überhaupt möglich war“, notiert Maigret kopfschüttelnd über diesen Herrn Simenon … Ein großes, eigensinniges Vergnügen! Selbst die Covergestaltung seiner Bücher war eigensinnig: Simenon war vorher Journalist, hat auch fotografiert, war mit vielen Fotografen befreundet und setzte – gegen dessen Willen – bei seinem Verleger Fayard durch, dass die Cover mit Fotos von später berühmten Fotografen wie Robert Doisneau gestaltet wurden. Das war „eine aufsehenerregende Neuigkeit“, wie er Fellini mit berechtigtem Stolz schrieb. Tatsächlich waren seine Bücher, die ab 1932 mit „fotografischen Umschlägen“ erschienen, weltweit die ersten mit derartigen Covern.

Mehr zu seinem Briefwechsel mit Fellini – und wo sich da für mich der Eigensinn deutlich zeigt, finden Sie hier.

Eigensinnig zwischen den Stühlen: Rafik Schami

Mein drittes Beispiel ist Rafik Schami. Gut möglich, dass bei ihm der Eigensinn wie bei vielen anderen Autoren und Autorinnen eine völlig unbewusste Entscheidung ist, vielleicht sogar die notwendige Position eines Mannes, der das Gefühl hat, schon sein Leben lang zwischen allen Stühlen zu sitzen … Er selbst nennt das lakonisch die Position eines Angehörigen gleich mehrerer Minderheiten: als Christ unter Muslimen, als Aramäer unter Syrern und als Syrer unter Deutschen. Außerdem ist er heute gleichermaßen engagiert als Erzähler, wie er es vorher als diplomierter Chemiker war. Er besteht darauf, dass beides ihn gleichermaßen trägt und prägt: Immer schon wollte ich „mit meinen zwei Seelen Chemielehrer und Schriftsteller werden“, sagt er. Am deutlichsten formuliert er seinen Eigensinn, als er in „Ich wollte nur Geschichten erzählen“ seinen Erzählstil so definiert: „Mein Stil hat sich zu einer orientalisch-okzidentalisch-damaszenisch-mündlich-magisch-satirischen Mischung entwickelt. Es ist mein Stil.“

Skurrile Krimis mit historischem Einschlag: Fred Vargas

Wer mir unter diesem Aspekt sofort einfällt, ist Fred Vargas (geboren 1957). Die Frau ist Historikerin, Mittelalterarchäologin und Archäozoologin. Seit etwa dreißig Jahren aber vor allem als Autorin bekannt, etwa mit ihren Krimis rund um das seltsam-skurrile Häufchen von Historikern verschiedener Epochen, die alle zusammen in einem Haus wohnen. Der erste Krimi dieser Reihe erschien 1995 und heißt auf deutsch „Die schöne Diva von Saint-Jacques“. Noch viel bekannter aber sind ihre – zum Teil verfilmten – Krimis rund um Kommissar Adamsberg und sein nicht minder skurriles Team, die sie seit 1991 regelmäßig schreibt. Aus diesen Krimis spricht viel Eigensinn. Sie beginnen oft mit seltsamen Bildern: auf einem Friedhof verlorenen Schuhen, Kreidekreisen auf Pariser Straßen, einem Dreizack, einer Sitzbank vor dem Pariser Kommissariat, einer halb verhungerten Taube, einem Kommissar, der mit Geistern spricht, einem Mitarbeiter, der in Jamben dichtend in einer Treppenhaus-Ecke hockt und enden mit Hirsch-Herzen oder einer Frau, die hingebungsvoll in Werkzeug-Katalogen schmökert …

Judith Schalansky: Bücher gestalten. In Büchern erzählen. Gleichzeitig

Eine eigensinnige Autorin ist sicher auch Judith Schalansky (geboren 1980): Sie schreibt und gestaltet ihre Bücher oft selbst, ist nicht nur bei eigenen Büchern Illustratorin, Gestalterin und Setzerin. Kein Wunder: Sie ist Autorin und Kommunikationsdesignerin. Das macht sie so gut, dass sie dafür schon zweimal mit dem ersten Preis der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet wurde. In dem Sammelband „Ein Haus mit vielen Zimmern. Autorinnen erzählen vom Schreiben“ (herausgegeben von Sophia Jungmann und Karen Nölle) bricht es regelrecht aus ihr heraus. „Wie ich Bücher mache“ ist ihr Beitrag überschrieben. Da sagt sie unter anderem: „Wenn die Objektivität obsolet geworden ist, entfalten selbst Schautafeln und prosaische Wissenschaftssprache poetischen Reiz. Solche Bücher möchte ich machen: Vademekums und Kataloge; Wunderkammern und Archive; Bücher, die ganze Welten behaupten, die ganze Welten sind, die andere Bücher in sich ein- und ausschließen; Bücher, in denen Text, Bild und Gestaltung eine Einheit bilden, in denen Fakt und Fiktion, Form und Inhalt nicht mehr auseinanderzuhalten sind, kurzum: totale Bücher. Weil Bücher aber, seien sie nun fachliterarischer oder belletristischer Natur, zuerst nun mal geschrieben werden müssen, schreibe ich.“

Mehr über sie, am Beispiel von ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ hier.

Über Nicht-Fassbares schreiben: Robert Musil

Er hat mit seinem Hauptwerk Weltgeschichte geschrieben: Robert Musil. Der Mann war eigentlich Physiker, hatte ein paar kleinere Bücher veröffentlicht. Und dann packte es ihn: Der „Mann ohne Eigenschaften“ war eigentlich als Essay gedacht und wurde zu einem Roman, der nach über 2.000 Seiten noch immer nicht abgeschlossen war, als sein Autor 1942 starb. Das Thema seines Buchs war ebenso simpel wie eigensinnig-unmöglich: Mitten im Zweiten Weltkrieg will er die Kräfte beschreiben, die zwischen 1890 und 1910 in der Kaiserlich und Königlichen Monarchie Österreich-Ungarn zum Ersten Weltkrieg geführt haben.
Alexander Kluge sagt über den „Mann ohne Eigenschaften“: „Das große Romanfragment beschreibt eigentlich nichts weiter als die Vorbereitung des Ersten Weltkriegs, und zwar aus einem Personenkreis, der für das Entscheiden nicht entscheidend ist, der also das Besondere darstellt zur allgemeinen Entwicklung, das am wenigsten Faßbare: Menschen, die sich selbst als Nebenfiguren betrachten. Dies ist die Aufgabe, die er sich stellt und die er nicht bewältigt, was ich für eine absolute Qualität, ja für Gewissenhaftigkeit halte.“ (Zitat aus: Fontane – Kleist – Deutschland – Büchner. Zur Grammatik der Zeit) Ja, auch das kann eigensinniges Schreiben sein: Themen in Angriff nehmen, die kaum fassbar sind, die aus diesem Blickwinkel noch nie jemand gesehen, gedacht, beschrieben hat. Und uns wie auch den Autor unter Umständen komplett überfordern. Mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ wird dieses Ringen um ein Thema überdeutlich …

Mein Fazit – nicht nur in Musils Fall: Auch, wenn das geplante Buch ganz anders wird als ursprünglich geplant, vielleicht noch nicht mal fertig wird …, wenn wir sicher sind, dass wir unser Thema gefunden haben, wird dieser Prozess in jedem Fall sinnvoll sein – in unserem eigenen Sinn. Ich denke, auf Robert Musil trifft das zu.

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In eigener Sache

Alle Beispiele stammen aus meinem Buch Wer schreibt, darf eigensinnig sein. Kreativität, Selfpublishing und Eigensinn. Ein Plädoyer, kein Schreibratgeber. Ich habe manchmal gekürzt, einige Autor:innen auch gleich ganz weggelassen. Wer also mehr wissen möchte, darf sich gern das Buch kaufen … Denn ich denke: Dort erfahren Sie ziemlich gut, wie Sie selbst ein eigensinniger Autor, eine eigensinnige Autorin werden können.

Vor allem kommt dabei das Spielen nicht zu kurz. Das ist für mich nämlich ein wichtiger Bestandteil von Kreativität. Darum können Sie dort – sehr augenzwinkernd! – auch erfahren, welcher Schreibtyp Sie eigentlich sind. Eichhörnchen, Amsel, Maulwurf, Fohlen, Drache, Ameise, Biber, Fledermaus, Hund, Katze, Spinne oder Schnecke?


 

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