Es fing an, wie es eigentlich immer anfängt: klein und lokal. Und doch ganz groß. Großartig. Denn ich hatte riesiges Glück. Schon, als ich noch Schülerin in Stuttgart war, habe ich DIE Buchhandlung entdeckt, die mein ganzes Leben geprägt hat. Besser gesagt: den Buchhändler. Wendelin Niedlich. Dessen Buchhandlung war mindestens zwanzig Jahre lang ein Zufluchtsort, in dem ich regelmäßig saß. Wer wie ich Bücher als „Zuhause“ empfindet, braucht solche Orte. Klar: Es gab auch Bibliotheken. Doch die waren so still, kühl und nüchtern. Kein Vergleich mit den Höhlen eines Wendelin Niedlich. Ja, das mit den Höhlen sollte man wörtlich nehmen. Denn seine Buchhandlung hatte ein Oben und ein Unten. Oben standen Kasse und das, was er  wohl als repräsentative Verkaufsware bezeichnet hätte. Unten standen Sessel und Stühle, da wurden Lesungen gehalten. Und überall lagen Bücherstapel. Klar: manche Bücher standen auch in Regalen. Aber sehr viele lagen scheinbar wild und ungeordnet in Haufen auf dem Boden. Scheinbar. Denn wenn gezielt etwas gesucht wurde, reichte ein Blick, ein Griff. Und Wendelin hatte in Sekundenschnelle das gesuchte Buch in der Hand. Kam mir oft vor wie ein Zauberkunststück. Wenn ich überhaupt hinsah – und nicht etwa von den Bildern an der Wand abgelenkt war … Ja: Auch regelmäßige Kunstausstellungen gab es.

Ein Highlight meines (Bücher-)Lebens

Nie, niemals vergesse ich den Abend, an dem Helmut Qualtinger in dem dicken, abgeschabten Ledersessel im unteren Raum saß – und las. Als müsse es exakt so sein, hier gehörte er hin, konnte gar nicht anders sein. Das war und bleibt ein Highlight meines (Bücher-)Lebens. Heute weiß ich, dass ich viele der absolut legendären Lesungen verpasst habe, die dort massenweise stattfanden. Aber ich war Schülerin. Und wir sprechen über die 70er Jahre. Natürlich: Da war so vieles ganz anders als heute. Aber Niedlichs  Buchhandlung bleibt bis heute meine „Blaupause“. Seitdem weiß ich, was alles in einer Buchhandlung geschehen kann. Auch, wenn sich – scheinbar – seitdem alles völlig verändert hat. Wirklich – ist das so?

Was ist eine „ideale Buchhhandlung“?

Ja, es hat sich vieles verändert. Und jahrelang dachte ich, dass nur inhabergeführte Büchereien dem entsprechen können, was sich meinem Gedächtnis als „ideale Buchhandlung“ eingebrannt hat. Mittlerweile lebe ich in einer Kleinstadt in der Nähe von Köln: Pulheim. Und die zentral gelegene Buchhandlung gehört zu einer großen Buchhandels-Kette. Sie ist ein Paradies für Kinder(-Bücher): Die haben einen von zwei Räumen ganz für sich. Die Buchhändlerinnen sind für alles und alle offen, die Atmosphäre ist immer entspannt. Und während der Coronazeit wird kurzerhand die Ladentheke in den Türrahmen verlegt – bestellte Bücher können zu normalen Ladenöffnungszeiten abgeholt werden. Das Signal ist klar: Wir sind TROTZDEM da. Ich freue mich immer, das zu sehen.

Gemeinsam geht vieles!

Auch, wenn ich in der Corona-Zeit Bücher häufiger als sonst online bestelle. Nicht irgendwo, sondern nur im Shop der Autorenwelt. Mittlerweile bin ich Selfpublisherin geworden. Und kann dieses „Geschrei“ nicht mehr hören: Onlinehandel versus stationärem Buchhandel. Vor allem darum nicht, weil ich mir mit den meisten Buchhändler:innen einig bin: Amazon brauchen wir nicht. Wir können wunderbar ohne den Giganten leben. Mit dem Shop der Autorenwelt können nämlich auch Buchkäufer:innen Autorinnen und Autoren unterstützen: 7 Prozent der Verkaufserlöse gehen an sie. Vor Ort kann das Internet das unterstützen, was die Pulheimer Buchhändlerinnen tun: online bestellen, stationär ausliefern. Bücher regionaler Autor:innen sind zu „normale“ Zeiten dort ebenfalls willkommen, auch, wenn sie Selfpublisher sind.

Wir nehmen die Sache gemeinsam in die Hand. Läuft!

Pragmatismus, Eigensinn und Flexibilität

Ich glaube: Das kleine Pulheim und seine Buchhandlung zeigen genau das, was in Hunderten von deutschen Kleinstädten so oder ganz ähnlich ebenfalls geschieht. Das ist gelebte Flexibilität. Gute Buchhändlerinnen haben immer schon so gehandelt: Sie reagieren auf Geschmacksänderungen, Zeitströmungen, Jahreszeiten, Kundenwünsche. Und jetzt auch auf die Auswirkungen des Lebens in einer Pandemie. Ich habe „Buchhändlerinnen“ geschrieben, mit Absicht. Denn ich bin auch Bücherfrau. Und weiß: Die Branche ist weiblich. Kluge Frauen haben oft diese unwiderstehliche Mischung aus Pragmatismus, Eigensinn und Flexibilität. Ich kenne mehr als eine Buchhändlerin, die genauso ist. Nur ein Beispiel: Martina Bergmann ist Buchhändlerin. Inzwischen aber auch Verlegerin. Und Autorin (über ihr Buch Mein Leben mit Martha habe ich hier geschrieben.)

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Danke!

Mit dieser Flexibilität. diesem Eigensinn, diesem Pragmatismus überlebt die Buchhandelsbranche immer wieder, Gott sei Dank! Ja, die Art von Eigensinn a la Wendelin Niedlich ist seltener geworden seit den 70er  Jahren. Nein, das „Modell Wendelin Niedlich“ war ohnehin nie überlebensfähig. Es war ein sehr spezielles Zeitgefühl – und hing an einem einzigen Mann. Doch ein bisschen was von diesem Gefühl finde ich noch immer in fast jeder Buchhandlung. Und dafür möchte ich mich endlich mal bedanken – bei allen, die das heute noch ermöglichen.


 

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