Miene These ist ja: Ohne ‚Ich‘ kein Eigensinn! Klingt einfach. Ist es aber nicht, wenn man sich zu fragen beginnt, wo so ein Ich eigentlich herkommt. Entsteht es biologisch aus dem Zusammenschluss von Ei und Samenzelle? Ist es ein Schicksal, das im Universum immer schon da war? Ist es einfach nur ein grammatikalisches Pronomen, um uns besser voneinander unterscheiden zu können: ich, du , er, sie, es …? Das waren jetzt nur die ersten drei Fragen, die mir ganz spontan dazu einfallen. Es gibt aber noch mindestens 1.001 mehr.
Inhalt
Das Ich, Descartes und die Aufklärung
In meinem Fall gilt: Ich habe erst begonnen, mir diese Fragen zu stellen, als ich versuchen wollte, den Eigensinn zu definieren. Schnell war klar: Ohne Ich kein Eigensinn. denn Eigensinn ist pure Individualität. Und die funktioniert nun mal nur mit einem klaren ‚Ich‘. Bevor ich mich im Dschungel der Fragen nach dem ‚Ich‘ verlieren konnte, fiel mir zum Glück noch rechtzeitig René Descartes ein. Sein berühmtester Satz „Ich denke, also bin ich“ wird fälschlicherweise oft als Haupt-Diktum der Aufklärung verstanden: Nur das Denken zählt, Intuition, Gefühle, Empathie, Herz, Bauch etc. zählen nicht. Doch das ist wirklich viel zu kurz gedacht. Sowohl, was „die Aufklärung“ (also, das Zeitalter kurz vor der Französischen Revolution etwa von 1720 bis 1785) angeht. Und erst recht, was René Descartes angeht.
Der Aufklärung ging es unter anderem auch um die Freiheit, um die Mündigkeit jedes einzelnen Menschen – und zwar keineswegs zufällig im Vorfeld der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit eben. Da mussten erst einmal die Fesseln feudaler Abhängigkeiten gelöst, die Vormacht irrationaler Gedanken von Kirche und etwa einem „Sonnenkönig“ in Frankreich gebrochen werden. Dabei hilft zweifellos das (Selber-)Denken. Nicht nur in der Epoche der Aufklärung, sondern heute noch immer …
So betrachtet, hat der Satz „Ich denke, also bin ich“ durchaus etwas Revolutionäres – vor allem, wenn man das Wort DENKEN betont. Dann entspricht es etwa dem Ausruf von Immanuel Kant (1724 bis 1804): „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Aber es korrespondiert auch mit unserer heutigen Einsicht, dass nur eine gute Bildung allen Menschen dabei helfen kann, frei zu sein. Und zu bleiben. Bedeutet: Frei entscheiden zu können, weil wir um Fakten und Zusammenhänge wissen. Nicht umsonst zählt übrigens das Verfassen der ersten Enzyklopädie(n) zu den wichtigsten Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung …
Das Ich, das Denken und die Intuition
Aber was ist, wenn wir in diesem kurzen Satz von Descartes das doppelte ‚Ich‘ betonen, vor allem das zweite?
Dann wird er zu DER Antwort im Wirrwarr der 1.001 Fragen, die wir uns stellen können, wenn wir uns überlegen, wo ein ‚Ich‘ eigentlich herkommt. Dann bedeutet dieser Satz: Das ‚Ich‘ entsteht aus sich selbst. Weil so ein Ich überhaupt erst mal ‚Ich‘ denken kann. Das ist sein Ursprung, eine Existenzberechtigung, seine Lebensgrundlage. Dieser Gedanke ist widerspruchslos, ruht allein in sich, braucht keinerlei Begründungen – schon gar nicht von außen. Völlige Autonomie also. Und damit die bestdenkbare Grundlage für den Eigensinn.
Muss ich jetzt, weil hier nur vom „Denken“ die Rede ist, alles andere ausschließen, die Intuition, das Gefühl, das Herz, den Bauch und so weiter? Ganz und gar nicht! Denn erstens gehört das alles ja unbedingt zu einem ‚Ich‘. Und zweitens hat Descartes das alles ausdrücklich mit eingeschlossen, sogar vorgelebt. Das habe ich ansatzweise in Mein Kompass ist der Eigensinn dargelegt. Mit Hilfe der – wie ich finde – großartigen Biografie von Dimitri Davidenko des „großen René“. Untertitel: „Descartes ausschweifendes Leben“. Schon da wird klar: Um das Denken allein wird es da kaum gehen … Tut es auch nicht. Denn Descartes steht für all das, was ich unter Eigensinn verstehe: Er handelt und schreibt, wie er es tut – weil er gar nicht anders kann. Weil es nur so für ihn Sinn macht. Er schielt dabei weder nach rechts oder nach links, lässt sich nicht einschüchtern, schreibt, was er schreiben will, schreiben muss – auch dann noch, als ihm mehrfach ein Verfahren der Inquisition angedroht wird. Er revidiert nichts, nimmt nichts zurück, geht statt dessen lieber freiwillig ins Exil, versteckt sich bei einem holländischen Freund, unter dessen Namen.
Und die Intuition spielt – trotz Descartes mathematischer Grundausrichtung – eine sehr wichtige Rolle für ihn. Davidenko stellt das folgendermaßen dar: Der Punkt, an dem er zu schreiben beginnen muss, wird ihm immer klarer. Er kann ihn deutlich benennen: Es sind „innere Freude und intellektuelle Intuition: Sie lassen den Samen der Weisheit und der Wissenschaft aufquellen, welche im Geist aller Menschen ruhen wie die Funken in einem Feuerstein. Und das gelingt ihnen mit viel mehr Leichtigkeit und Brillanz als nur aus dem Verstand, den die sogenannten Philosophen gebrauchen.“
Das Ich und der Eigensinn
Wie eigensinnig-autark dieser kurze Satz ist, der heute noch so gern von Descartes zitiert wird, ist spätestens dann klar, wenn wir ihn einfach mal ins „Negative“ drehen: Wenn ich mich nicht denken könnte, gäbe es mich gar nicht.
Damit habe ich meine ultimative Antwort darauf gefunden, wo das ‚Ich‘ eigentlich herkommt, wo es wurzelt: Immer nur in jeder und jedem von uns. Das nimmt uns niemand, das kann uns kein Mensch streitig machen. Und genau da beginnt auch unser Eigensinn.
[bctt tweet=“Wenn ich mich nicht denken könnte, gäbe es mich gar nicht.“ username=““]
Wenn dieses ‚Ich‘ dann auch noch an Gott, höhere Mächte, die Schönheit der Mathematik oder die Kraft der Liebe glauben möchte, ist ihm das natürlich völlig unbenommen. Doch das ist erst der zweite Schritt. Denn: Wie wollte ich an etwas glauben, wenn ich noch nicht mal weiß, WER da glaubt?!
Und:
[bctt tweet=“Wenn ich nicht ‚Ich‘ sagen und denken könnte, wie sollte ich jemals zu meinem eigenen Sinn finden?“ username=““]
In diesem Sinne: Selber-Denken hilft. Immer. Und das ‚Ich‘ – plus Eigensinn – ist der perfekte Anfang dazu.
In eigener Sache
Die Trilogie des Eigensinns besteht bislang aus zwei Büchern – die sich ohne Probleme auch wunderbar getrennt voneinander lesen lassen. Macht durchaus Sinn, denn sie bilden zwar eine „Familie“, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte. In „Mein Kompass ist der Eigensinn“ geht es darum, wie wir Eigensinn erkennen, ihn für uns entwickeln können. Aber auch darum, wo er seine Grundlagen hat, welche Vorbilder ich gefunden habe – und wie er uns helfen kann. Als Kompass zum Beispiel. Oder beim Schreiben von (eigenen) Büchern.
In „Wer schreibt, darf eigensinnig sein“ steht eigentlich schon alles Wichtige im Titel: Es geht um die praktische Realisierung des Schreibens mit Eigensinn, um Kreativität, aber auch um Selfpublishing. Da gibt es jede Menge Praxistipps, Übungen und Beispiele. Aber auch die Spiellust – meiner Ansicht nach ein wichtiges Schreib-Instrument – kommt nicht zu kurz. Zum Beispiel mit dem Selbsttest „Welcher Schreibtyp bin ich eigentlich?“ Der zieht sich – augenzwinkernd bis ernst – durch das ganze Buch.
Beide Bücher auf einen Blick – und auch zum Bestellen – im Shop der Autorenwelt hier. Aber natürlich auch überall sonst, wo es Bücher gibt.
Text und Bilder: Maria Al-Mana